Löwe vom Stockborn

Da liegt ein schöner Löb
oder
Wie der Löwe vom Stockborn beinahe zum weißen Löwen von Sättelstädt geworden wäre

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Mechterstädt hat zwar keinen Zoo, beherbergt aber seit vielen Jahren ein zahmes, wildes Tier in seinen Gemeindegrenzen: einen steinernen Löwen. Besser bekannt ist er als „der Löb vom Stockborn“. Nein, er ist kein Kunstwerk, er ist künstlerisch eher unbedeutend, vielleicht sogar einmal als Dutzendware hergestellt worden. Und doch spielt er eine kleine Rolle in der neuzeitlichen Geschichte des Dorfes. In die Jahre gekommen, steht der stille Weggefährte auf einer Grünanlage mitten im Dorf. Die Äste zweier hoch gewachsener Tannen schlagen über ihm zusammen, als wöllten sie ihn vor den Blicken Vorübergehender verbergen. Dabei kann er doch ganz ruhig sein. Seine wilden Jahre liegen nämlich schon lange hinter ihm.

Wie die vermutlich sandgehauene Figur auf den Rasen an der Hauptstraße gelangte und was ihr so alles widerfuhr, darüber kursieren Geschichten. Welche werden wohl wahr sein? Wahr scheint, dass es Karl Schade aus der Vippacher Gasse war (heute das Haus der Familie Bode), der den Löwen in die Mechterstädter Flur holte. Er soll ihn bei Aufräumarbeiten im Garten der Wuthaer Privatfirma Röber – später VEB Petkus – gefunden haben. Gehörte die Figur vielleicht zum Portal einer Röber-Villa? Noch heute erinnert beispielsweise das Wuthaer Rathaus an den Röberschen Besitz. Auf jeden Fall war der Löwe dem Karl Schade zu schade, um auf dem Müllhaufen der Geschichte zu landen. Also bugsierte er den steinernen Kerl ins Burlaer Feld, wo er Land besaß. Dort, so berichten es die Mechterstädter Renate West und Gerhard Dübner vom Hörensagen, soll er den Löwen auf einer Quelle abgestellt haben. Oder setzte er ihn auf den Acker und später sprang eine Quelle unter dem Tier hervor? Das wäre gar zu märchenhaft, aber – genau weiß man es nicht, um es nicht doch für möglich zu halten. Von der Flurbezeichnung über dem Dorf jedenfalls erhielt der Löwe fortan seinen bis heute überlieferten Namen: „Der Löb vom Stockborn“.

Wie viele Jahre er im Felde einsam wachte und dabei Glück hatte, nicht von einem Panzer der dort in der Nähe stationierten russischen Streitkräfte überrollt zu werden? Waren es 20, oder mehr? Karl Schade starb, der Löwe wachte weiter im Acker. Mag sein, mancher Bauer hielt ihn für einen besonderen Grenzstein. Sicher ist: Der Löwe saß, wo er saß. Die Zeit verging. Man schrieb das Jahr 1971 (oder 1970?), als der Sättelstädter Werner Meißner von der Existenz des Löwen erfuhr. Sein Freund Erich, genannt „Millowitsch“, entdeckte die Figur, angeblich in einem Graben liegend, im Stockborner Feld, wie Meißners Sohn Jürgen aus der Erinnerung berichtet. „Da liegt ein schöner Löb“, soll Erich seinem Kumpel gesagt haben. Und weil Werner Meißner gerade einen hübschen Steingarten neben der alten Zollscheune am Bahndamm Richtung Hörselberg angelegt hatte, konnte er sich den Löwen – damals eine Rarität – als Zierde der Anlage gut vorstellen. Also luden ihn die Sättelstädter auf einen Futterladerwagen und bugsierten ihn in den Meißnerschen Garten. „Mein Vater wollte eine kaputte Tatze restaurieren, und weil der Löwe schlecht zu säubern ging, wollte er ihn mit Kalk weiß färben, um ihn zu konservieren. Viel Auswahl gab es ja damals beim Material nicht. Dann wäre aus dem grauen ein weißer Löwe geworden“, erzählt Jürgen Meißner. Zum Restaurieren kam Werner Meißner aber nicht mehr. Denn der Löwe, den viele Spaziergänger Richtung Hörselberg bewunderten, wurde auch von Mechterstädtern entdeckt, die sich an dessen ursprünglichen Standort erinnerten. Sein Dasein in Sättelstädt war deshalb nur von kurzer Dauer. 14 Tage vielleicht, so schätzt es Jürgen Meißner ein, stand der Löb im elterlichen Steingarten. Dann holten ihn einige Mechterstädter wieder nach Hause, getreu dem Motto: Auf Mechterstädter Grund stand er, auf Mechterstädter Grund gehört er.

Diesmal sollte er im Dorf ein geschützteres Plätzchen finden und wurde kurzerhand auf die Grünanlage im Zentrum gestellt. Wo er alsbald das Interesse der Jugend erregte. Da die bekanntermaßen vor Mitternacht nicht ausgelastet ist, beschloss ein besonders aktives Grüppchen in einer sternklaren Sommernacht, in der sogar der Mond Rotwein getrunken zu haben schien, dem geduldigen Tierchen ein wenig Leben einzuhauchen. Mittels Farbe. Die Aktion soll danach ordentlich begossen worden sein. Am Morgen danach jedenfalls fand man den Löwen bunt angesprüht vor. War halb Mechterstädt empört, die andere Hälfte amüsiert? Wer weiß das schon noch. Auf jeden Fall war der Löwe wieder mal Dorfgespräch. Renate West, damals Bürgermeisterin, wollte dem Löwenzirkus ein Ende machen. Sie sprach mit den Jugendlichen und muss sie dabei wohl ungewollt herausgefordert haben: „So seid ihr kräftig und stark, aber den Löwen in die Hörsel schmeißen, das schafft ihr ja doch nicht.“ Diese oder ähnliche Worte könnte sie damals gesagt haben, erinnert sie sich. Am Tag darauf erlebte Mechterstädt einen Riesen-Auflauf auf der Brücke zur Vippacher Gasse: Der Löb nahm ein Bad in der Hörsel. Dem Vernehmen nach sollen in der rotweingeschwängerten Nacht Dietmar Jaudszus, Dieter Specht, Werner Reinhard, Volker Röse und Uwe Graul die Bademeister des Löwen gewesen sein. So richtig böse sein konnte ihnen keiner. Das war ein Riesengaudi, der Spaß überwog, berichtet Renate West. Damit der Löwe aber nicht noch weitere nächtliche Ausflüge unternimmt, wurde er nun kurzerhand einbetoniert. Seitdem hat sein Nachbar auf der anderen Straßenseite, der Mechterstädter Egon Kalbe, ein waches Auge auf das alte Tier – und der Löb vom Stockborn seine Ruhe gefunden. Oder doch noch nicht?